Das Massaker der Hamas war ein einschneidendes Ereignis für das gesamte Judentum. Das Leben in der Diaspora wird schwieriger, und in Israel verschieben sich die Gewichte zwischen orthodoxen und liberalen Juden.

Leben ist mehr als Überleben. Jeder Mensch will leben. Seit 3000 Jahren ist der jüdische Mensch dankbar, wenn man ihn überleben lässt. Wenn man, wo und wann auch immer, Juden existieren liess oder bevor man sie nicht nur diskriminierte, sondern liquidierte, schufen und schaffen sie in ihrem Leben für sich und andere menschheitsgeschichtlich erstaunlich Bemerkenswertes: intellektuell und kulturell, wissenschaftlich, wirtschaftlich oder gesellschaftlich.

Nicht, weil sie intelligentere Gene als andere Menschen hätten, sondern weil sie – zunächst normativ individuell, dann gesellschaftlich gesteuert – erheblich früher und breiter als die Nachbarn ihrer Mehrheitsgesellschaft ihre Lern-, Lehr- und Bildungstradition schufen und pflegten. Volks­bildung wird in allen jüdischen Gemeinschaften seit ungefähr 2500 Jahren geboten – wenn man die Juden eines natürlichen Todes sterben lässt.

Aufgrund ihrer längeren, intensiveren und extensiveren Bildungs- sowie Leistungstradition sind sie dann erst recht erfolgreicher als ihre Konkurrenz. Das wiederum provoziert Neid, nicht selten Hass und schliesslich im ersten Schritt Diskriminierung, im zweiten Liquidierung. Und ewig dreht sich das Rad der Geschichte.

Daraus folgt erstens: Jüdisches Leben war, ist und, ich fürchte, bleibt Existenz auf Widerruf. Den jüngsten Beweis lieferte die Wut-Blut-und-Mord-Orgie der Hamas am 7. Oktober dieses Jahres. Die darauffolgenden, globalen und lebensgefährlichen Überschwappeffekte auf Diasporajuden sind jedermann bekannt.

Aus dem Gesagten abgeleitet, muss zweitens gefragt werden: Wo waren und sind Juden sicher, wo werden sie sicher sein? Die Antwort: Juden sind nirgendwo sicher und werden es auch künftig nicht sein. Wohin? Wer weiss es?


So entsetzlich alle Widerrufe jüdischer Existenz in dreitausend Jahren waren – der furchtbarste wurde aus und in Berlin konzipiert sowie organisiert. Es folgte jedes Mal eine kollektive Wiederauferstehung. Voller Lebenslust mit Geist und Seele.

Der Geist bzw. der jeweilige Inhalt jüdischer Existenz sei hier beschrieben und reflektiert. Ich betrachte dabei den Zeitraum seit Israels Gründung im Jahre 1948 bis und seit dem Blutbad vom 7. Oktober 2023. Schliesslich sei ein Blick in die jüdische Zukunft gewagt.

Die jüdische Diaspora
Wir blicken zuerst auf die jüdische Diaspora, dann auf den jüdischen Staat. Die zunehmende Ent-Israelisierung der Diasporajuden ist eine Folge der innerjüdischen Spaltung in Israel. Sie betrifft die Palästinenser- und Siedlungspolitik, die Theokratisierung, die Orientalisierung sowie die Russifizierung Israels. Sie bewirkte den Ruck nach rechts, zum Nationalismus und zur militanten Ausprägung der Religion in Israels Gesellschaft.

Dieser Wandel entspricht nicht dem Geist der jüdischen Diaspora. Abgeschwächt und doch deutlich erkennbar spiegelt der Diasporageist den antiheroischen, areligiösen und eher supranationalen Zeitgeist derjenigen westlichen Staaten wider, in denen die jüdische Diaspora am häufigsten zu finden ist.

Die jüdische Diaspora hat sich vom jüdischen Staat re-emanzipiert. Anders als bis in die frühen 1980er Jahre besteht sie auf Partnerschaft unter Gleichen. Damit wird sie gesamtjüdisch scheitern, denn als Reaktion auf die weltweit zunehmenden klassisch-christlichen und postchristlichen Antijudaismen, den islamischen Terror sowie die Ohnmacht besonders der westeuropäischen Staaten darin, ihre Juden erfolgreich zu schützen, hat in jüngster Zeit – bereits vor dem 7. Oktober 2023 – eine Re-Judaisierung als Re-Israelisierung bzw. ein neuer Judenexodus begonnen. Dieser wird sich massiv verstärken.

Wohin? Nach Israel. Doch sind sie dort sicher? Wo sind Juden sicher? Auch in Israel nicht. Aber es besteht bezüglich der israelischen Unsicherheit auf der einen Seite und der diasporajüdischen auf der anderen Seite ein fundamentaler Unterschied: In der Diaspora sind die Juden als Juden – egal, ob religiös oder säkular – innenpolitisch bedroht, in Israel aussenpolitisch.

Vor islamischem Terror sind die Juden auch in Israel nicht sicher, doch sie wissen: Wenn überhaupt ein Staat seine jüdischen Bürger schützen kann und will, weil die Gesellschaft sein Gewaltmonopol billigt und Polizei sowie Militär als Teil ihres Wir wahrnimmt, dann Israel.

Judenhass und Migration
Die Re-Israelisierung der Juden hängt ebenfalls mit einem weltweit zunehmenden militanten Antizionismus bzw. Antiisraelismus zusammen. Dessen Träger sind wahrlich nicht nur Muslime. Antizionismus ist weit mehr als Israelkritik. Diese richtet sich gegen Massnahmen der Jerusalemer Regierung, jener gegen das Existenzrecht Israels und gilt scheinbar nur Israeli, tatsächlich schwappt er auf die Juden über. Für diese These bedarf es nach dem 7. Oktober 2023 keiner Einzelnachweise mehr. Die Überschwappeffekte auf Europa und die USA sowie dort auf die Elite-Universitäten, einst «Judenhochburgen», kennt nun jeder.

Der Anfang des vorletzten Exodus war die Endphase der Sowjetunion um 1990/91. Rund eine Million Juden strömten seitdem aus dem neuorthodox-christlichen, notorisch antijüdischen Russland (plus Ukraine, Weissrussland, GUS-Staaten) nach Israel.

Knapp 40 000 verfolgte Juden (Falaschas) wurden seit den 1980er Jahren aus dem christlich-muslimischen Äthiopien gerettet. Seit 2000 emigrierten, als Reaktion auf islamische Gewalt und staatliche Ohnmacht, etwa 150 000 von einst etwa 600 000 Juden aus Frankreich nach Israel. Wie in Frankreich ist auch in Deutschland physisch und verbal die islamische Gewalt massiver als die ebenfalls unbestreitbare rechts- oder linksextreme. Linksextremistische Antisemiten brüllten 2014 – also lange vor dem 7. Oktober 2023 – zusammen mit Islamisten «Juden ins Gas». Wohlgemerkt, «Juden», nicht «nur» «Israeli», wurde und wird gebrüllt. Scheinbar harmlosere Varianten sind seit dem 7. Oktober passé.

Bezüglich Islam und Massenmigration war bis zum 7. Oktober die diasporajüdische Gemeinschaft gespalten. Die einen sagten: «Unsere Vorfahren waren ebenfalls Flüchtlinge und Migranten. Hilfe ist humanes Gebot.» Die anderen konterten: «Stimmt, aber sollen wir freiwillig potenzielle Judenhasser aufnehmen?» Staatliche Repräsentanten verdammen Antisemitismus, aber relativierten die empirisch begründete jüdische Angst vor dem Islam. Oft wurde die reale Gefahr überzuckert oder regelrecht geleugnet. Seit dem 7. Oktober schrumpfte der Anteil jüdischer – und nichtjüdischer – Befürworter muslimischer Einwanderung dramatisch.

Antisemitismus nimmt weltweit zu
Grossbritannien war schon vor dem 7. Oktober eine Hochburg der massiv antizionistischen BDS-Bewegung. Sie hat sich dem politischen und wirtschaftlichen Kampf gegen Israel verschrieben. Es fehlte nicht viel, und die Labour Party unter Jeremy Corbyn hätte die Regierung übernommen. Laut Umfragen wollte in der Corbyn-Ära ein Drittel der Juden auswandern. Nach dem 7. Oktober 2023 demonstrierten Hunderttausende gegen die «jüdischen Mörder» in Israel. Steht jetzt auch hier ein jüdischer Exodus bevor? Wohin? Israel. Aber?

Verbale und körperliche Gewalt gegen Juden gehört inzwischen zum Alltag der jüdischen Minigemeinden Schwedens, besonders in Göteborg und Malmö. Die Folge: Diese Stadt ist inzwischen fast «judenrein». Antijüdische Funken flogen schon vor dem 7. Oktober 2023 von Schweden nach Dänemark.

Pittsburgh, USA, Sabbatgottesdienst, 27. Oktober 2018: Elf Menschen werden erschossen, zahlreiche schwer verletzt. Der Mörder brüllt: «Alle Juden müssen sterben.» An den Universitäten studieren heute die Entscheider von morgen. Immer mehr junge Akademiker sowie der linke Flügel der Demokraten-Partei sympathisierten – bereits vor den Massenmorden der Hamas – mit der antiisraelisch-antijüdischen BDS-Bewegung. Die langfristigen Folgen dieser Entwicklung im Kleinen für die grosse Politik sind jedem offensichtlich. Selbst in New York, lange die Hochburg der amerikanischen Juden, denn: Ein zunehmend wachsender Teil der jungen, gebildeten und wohlhabenden amerikanischen Juden ist dem Judentum sowie Israel gegenüber weitgehend indifferent.

Doch der seit den 2010er Jahren erstarkte oder zumindest aktivere und militantere linke sowie der rechte Antisemitismus schienen schon vor dem Mega-Terror der Hamas eine Wende oder zumindest Korrektur anzudeuten. Eine im Herbst 2021 durchgeführte Umfrage des American Jewish Committee ergab, dass 90 Prozent der amerikanischen Juden inländischen Antisemitismus «für ein Problem» hielten. In der allgemeinen Bevölkerung waren es nur 60 Prozent.

Gleichzeitig betrachteten Amerikas Juden Rechte zu 91 Prozent sowie Islamisten zu 86 Prozent als antisemitische Gefahr, doch mehr als noch ein Jahr zuvor sahen sie auch eine wachsende Gefahr von Linksextremisten: 2020 sahen das 61 Prozent, 2021 bereits 71 Prozent. Noch düsterer dürfte das Bild nach dem 7. Oktober 2023 sein.

Argentinien beherbergt die grösste jüdische Gemeinschaft Lateinamerikas. Bis heute unternahmen fast alle Politiker alles – auch einen Mord am recherchierenden Generalstaatsanwalt –, um die Iran-Connection des Terroranschlages gegen das Jüdische Gemeindezentrum von Buenos Aires im Juli 1994 zu verheimlichen. 87 Menschen wurden damals ermordet, über 100 verletzt.

In Australien leben derzeit 120 000 Juden. Auch dort gab es schon islamistische Verbal-Attacken und Anschläge gegen jüdische Ziele.

Jüdische Zukunft
Was bedeutet das globale Szenarium für Diasporajuden heute und morgen? Die Antwort bedingt zunächst einen Blick nach innen. Während in Israel etwa 30 Prozent der Juden im Sinne der religiösen Gebote leben – Tendenz aufgrund der hohen Geburtenrate steigend –, beträgt der Anteil religiöser Juden in der Diaspora nicht mehr als 10 Prozent. Die Synagogen sind sogar an den hohen Feiertagen (Neujahr und Jom Kippur) eher spärlich gefüllt.

Unverdrossen bauen (aus schlechtem Gewissen) besonders deutsche Kommunen neue Synagogen, um zu beweisen, wie gut sie es mit den Juden meinen. Nennenswerten Zulauf verbuchen allein die inzwischen auch quantitativ beachtliche modern-orthodoxe und seelsorgerisch vorbildliche Chabad-Bewegung sowie die relativ immer noch kleine Gemeinschaft des liberalen Judentums.

Das bedeutet: Jüdischer Geist bzw. jüdische Inhalte sind für die erdrückende Mehrheit der Diasporajuden ein Nichts. Ihr Jüdisch-Sein ist fremdbestimmt – allein durch die postchristlich rechten und linken sowie die islamischen Gefahren von aussen. Nur Orthodoxie und Reformjudentum sichern dem Diasporajudentum eine jüdische Zukunft.

In der allgemein weitgehend a- und antireligiösen Gegenwart von Diasporajuden und Nichtjuden hat das liberale Judentum strukturell besonders günstige Entwicklungschancen – bei denjenigen Juden, denen allein jüdisches Dasein bzw. Überleben nicht genügt und die jüdisches Sein bzw. jüdisches Leben suchen.

Allerdings schwächt die innerjüdische Demografie in Diaspora und Israel das liberale Judentum strukturell. Noch gehört in den USA die grosse Mehrheit der amerikanischen Juden zum liberalen Judentum. Doch kinderreicher sind die Orthodoxen. Was das für die religiöse Orientierung der Diaspora bedeutet, versteht sich von selbst. Zum Zeitpunkt x sind liberales und orthodoxes Judentum gleich stark, langfristig wird die Orthodoxie am stärksten.

Rund 65 Prozent der Juden leben derzeit in der Diaspora. Wer sich als Diasporajude an Israel orientiert, versteht sich als Zionist und praktiziert Israelismus. Doch Israelismus ausserhalb Israels ist eine Lebenslüge und daher absurdes Theater.

Wer weder religiös und kulturell noch israelistisch lebt, erlebt als Diasporajude nur die jüdische Situation ohne genuin jüdische Inhalte. Sie ist negativ durch klassisch-religiöse, rechts- und linksideologische sowie – noch mehr als vor dem 7. Oktober 2023 – durch die islamische Judenfeindschaft geprägt – also nur negativ fremdbestimmt.

Die israelische Zukunft
Zwischen 30 und 40 Prozent, je nach Indikator gar 50 Prozent der jüdischen Israeli sind auf die eine oder andere Weise religiös oder orthodox. Das bedeutet: In Bezug auf jüdische Inhalte ist Israel in zwei Lager gespalten. Gespalten und regelrecht verfeindet. Wir blicken in die Zukunft.

Die talmudischen Weisen lehren in Berachot 57 b: Drei Dinge geniesse der Körper: das Baden, das Salben und «Taschmisch», auf Deutsch: Beischlaf. Und weiter: Drei Dinge bieten einen Vorgeschmack auf die kommende Welt: Sabbat, Sonne, Beischlaf. Offenbar bekamen die Talmudisten Angst vor der eigenen erotischen Courage: zu viel Körperfreuden, zu wenig Keuschheit und Geist. Sie ergänzten: Weil Beischlaf zur Abmagerung führe, sei «Taschmisch» als Urinieren zu verstehen. Urinieren als Vorgeschmack auf die Freuden der kommenden Welt? Nicht sehr überzeugend, weder allgemein noch im Text-Zusammenhang. Selbst für orthodoxe Juden.

Sie verstehen daher den Talmud richtig, wenn sie besten Gewissens dem Beischlaf frönen und ein Kind nach dem anderen in die Welt setzen. Klarer als im Talmud wird die demografische Dynamik der Orthodoxie durch das an den biblischen Nicht-Juden Noah, also an die gesamte Menschheit, gerichtete biblische Gebot in Genesis 9 gerechtfertigt: «Seid fruchtbar und mehret euch!» Anders als die meisten Menschen auf der nördlichen Erdhalbkugel erfüllen die orthodoxen Juden artig den göttlichen Auftrag.

Der Exkurs in die Welt des orthodoxjüdischen Eros erklärt einerseits die demografische Dynamik der israelischen sowie der diasporajüdischen Orthodoxie und andererseits die grosse Chance des liberalen Judentums. Wenn auch die säkularen jüdischen Israeli das Jüdische im jüdischen Staat nicht nur mit Floskeln, sondern mit Inhalten füllen und den Orthodoxen nicht das Monopol auf Jüdisches überlassen wollen, haben sie nur einen Adressaten: das liberale Judentum.

Das gilt umso mehr, als die orthodoxen Juden weitgehend nur auf den eigenen jüdischen Bauchnabel schauen. Sie haben also ein – teilweise sogar extrem partikularistisches – ge- und verschlossenes, rein jüdisches Weltbild. Ganz anders das Weltbild der weltlichen Juden in Israel und in der Diaspora. Es ist eher offen und universalistisch, verbindet also Jüdisches mit der grossen, weiten Welt. Nicht nur mit und als Volk Israel, sondern – auf Augenhöhe, und nicht von oben nach unten, als Teil der Menschheit.

Nach der Blut-Orgie der Hamas vom 7. Oktober 2023 suchen gewiss viele säkulare Juden in Israel ebenso wie in der Diaspora wieder verstärkt die Nähe zu Juden und Jüdischem. Das ist strukturell die goldene Gelegenheit für das liberale Judentum sowie die beste, ja einzig echte Brücke zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Welt in Israel und der Diaspora. Ein Lichtblick für Juden und Nichtjuden in aller Welt. Erst recht in dieser nach dem 7. Oktober 2023 so tiefdunklen Welt. Doch wo sind die Juden sicher? Orthodoxe ebenso wie liberale? «The answer, my friend, is blowin’ in the wind.»

Michael Wolffsohn ist Historiker und Publizist. 2022 erschien sein Buch «Eine andere Jüdische Weltgeschichte». – Dankesrede, gehalten bei der Entgegennahme des Israel-Jacobson-Preises, der Wolffsohn am 19. November in Berlin von der Union des liberalen Judentums verliehen worden ist.